ÜBER GRENZEN UND FIKTIVE KARTOGRAFIEN

14/03/2017 17:25
Francis Alÿs | The Loop, 1997 | Grafische Dokumentation einer Aktion, von Tijuana bis San Diego
Francis Alÿs | The Loop, 1997 | Grafische Dokumentation einer Aktion, von Tijuana bis San Diego | Foto: Mit freundlicher Genehmigung des Künstlers und der Galerie Peter Kilchmann, Zürich

Könnten wir uns die Welt räumlich und geografisch nicht auch ganz anders vorstellen? Künstler entwerfen ihre Landkarten auf unterschiedlichste Art und Weise: Orte, die durch Geräusche entstehen, grenzenlose Staaten oder fiktive Kartografien.

Der auf Kuba geborene italienische Schriftsteller Italo Calvino hat uns mit Die unsichtbaren Städte auf (un-)mögliche, fiktive Orte aufmerksam gemacht. Das Buch handelt von einem imaginären Treffen zwischen dem mongolischen Kaiser Kublai Khan und dem venezianischen Händler und Reisenden Marco Polo. Hier geht es nicht nur um den Austausch zwischen der westlichen und östlichen Welt, sondern vor allem um den Reisebericht des Venezianers, der die Gesprächspartner über Erinnerungen, Emotionen und Zeichen in Verbindung bringt.

Auch Künstler beschäftigen sich auf unterschiedlichste Art mit der Geografie und lassen Räume entstehen: etwa solche, die erst durch Erinnerungen oder Geräusche wahrgenommen werden können, oder Orte, die grenzenlos sind. Andere machen das Überschreiten von Grenzen zum Thema. Aus Spurensuchen, Sammlungen oder Archiven entstehen „Künstler-Atlanten“ – also fiktive Räume und Kartografien, die keinen staatlichen Regeln folgen oder diese hinterfragen.                                                   

AM ANFANG WAR DER SOUND

Das kanadische Künstlerduo Janet Cardiff und George Bures Miller erzeugt Räume durch komplexe Sound-Installationen. Bekannt wurden ihre Arbeiten in den Neunzigerjahren durch die umfassenden „Walks“, in denen Orte durch die Stimme erfahrbar wurden. Indem die Zuschauer gesprochenen Anweisungen folgen, schaffen sie durch ihre performative Teilnahme flüchtige Räume.

VON TIJUANA NACH SAN DIEGO

Das Reisen und insbesondere das Flanieren sind die Lieblingsaktivitäten des belgischen Künstlers Francis Alÿs. Viele seiner Arbeiten entstanden auf Spaziergängen in Mexiko-City, wo er seit 1986 lebt. Von Mexiko in die USA zu reisen, ohne die Grenze zu überqueren, scheint unmöglich zu sein. Alÿs beschreibt in Loop (1997) die Flüge, die er nehmen musste, um von San Diego (USA) nach Tijuana (Mexiko) zu gelangen, ohne dabei die Grenze zwischen beiden Ländern zu überschreiten.

Francis Alÿs | The Loop (1997) | Grafische Dokumentation einer Aktion, von Tijuana bis San DiegoFrancis Alÿs | The Loop (1997) | Grafische Dokumentation einer Aktion, von Tijuana bis San Diego | Foto: Mit freundlicher Genehmigung des Künstlers und der Galerie Peter Kilchmann, ZürichMit dem Geld für eine Ausstellung in San Diego reiste er über Tijuana nach Mexiko-Stadt, Santiago, Auckland, Sydney, Singapur, Bangkok, Rangoon, Hongkong, Shanghai, Seoul, Anchorage, Vancouver und Los Angeles, um am Ende in San Diego anzukommen. So macht er auf die Absurdität von Landesgrenzen und Grenzkontrollen aufmerksam.

„THE MOST INTERNATIONAL ARTIST IN THE UNIVERSE“

Ob wirtschaftliche, ideologische, religiöse oder kriegsbedingte Migration: Schon immer mussten Menschen ihre Heimat verlassen. Für die in Brisbane lebende indonesische Künstlerin Tintin Wulia sind Grenzen ein zentrales Thema ihrer Arbeit.

Seit 2007 sammelt sie Kopien von Reisepässen – auch aus Ländern, die nicht mehr existieren, wie etwa die Deutsche Demokratische Republik oder Jugoslawien. Aktuell sind es 154 Pässe unterschiedlicher Nationen, die sie zu Bestandteilen ihrer Installationen, Performances, Workshops und Videos macht. 

Tintin Wulia 2014 | Make Your Own Passport | Installation und Workshop-Performance beim World Stage, Habitat III UN Conference, Quito (2016) Tintin Wulia 2014 | Make Your Own Passport | Installation und Workshop-Performance beim World Stage, Habitat III UN Conference, Quito (2016) | © Mit freundlicher Genehmigung von der Künstlerin und Next CityWulia nennt sich selbst „The Most International Artist in the Universe“ und lädt mit der Installation und Workshop-Performance Make Your Own Passport (2014) Besucher dazu ein, sich ihre Pässe selbst zu basteln. Wie beim Lotto kriegt jeder Teilnehmer einen Reisepass zugeteilt.

Währenddessen kommen sie miteinander ins Gespräch, sei es über Migrationen, Staatsangehörigkeiten, Familienschicksale oder persönliche Geschichten. Wer den Status „staatenlos" bekommt, hört sich eine fiktive oder reale Geschichte über eine Person ohne Staatsangehörigkeit an. In Wulias Arbeit werden die Macht der Dokumente und die Willkür ausgrenzender Konzepte, wie Nationalitäten oder Nationalstaaten, spürbar gemacht.

EMOTIONALE ARCHÄOLOGIE

Moheda (1966-2016) heißt ein aktuelles Projekt des in Berlin lebenden uruguayisch-schwedischen Künstlers Juan Pedro Fabra Guemberena. 1979 ging er, im Alter von sieben Jahren, von Uruguay nach Schweden ins Exil. Sein Pass wurde mit einem „Alle Länder außer Uruguay“-Stempel markiert, was bedeutet, dass er sein Heimatland nicht mehr besuchen durfte. Moheda ist der Ort, wo er als Flüchtling mit Kindern aus anderen Ländern lebte.

Diese „zeitgenössische Ruine“, wie der Künstler sie nennt, wurde 1966 errichtet und 1990 demontiert. Es war die erste Siedlung für Gastarbeiter, die hauptsächlich aus dem ehemaligen Jugoslawien und aus Griechenland stammten.

Juan Pedro Fabra Guemberena | Moheda (1966-2016) Juan Pedro Fabra Guemberena | Moheda (1966-2016) | Foto: Mit freundlicher Genehmigung von Juan Pedro Fabra GuemberenaFabra Guemberenas Projekt begann im Winter 2015, als er eine Radiosendung mit Geflüchteten aus Syrien gehört hatte. In der Sendung versicherten die Interviewten, dass in ihrer temporären Unterkunft – fünf Kilometer von Moheda entfernt – Gespenster wohnten. So fing der Künstler an, über seine Kindheitserinnerungen nachzudenken. Mit Moheda entstand eine „emotionale Archäologie“, in der Fabra Guemberena diese Siedlung mit Erinnerungen und Fiktionen rekonstruiert.

Juan Pedro Fabra Guemberena | Moheda (1966-2016) Juan Pedro Fabra Guemberena | Moheda (1966-2016) | Foto: Mit freundlicher Genehmigung von Juan Pedro Fabra GuemberenaMit seiner Arbeit möchte er diesen Ort zum Denkmal der schwedischen Geschichte machen. Um seine Ergebnisse wissenschaftlich zu untermauern und rechtlich abzusichern, arbeitet er mit einer Archäologin und einem Rechtsanwalt zusammen. Der Künstler will damit den Geflüchteten eine Stimme geben, indem sie nicht nur von außen betrachtet werden, sondern er sie in den verschiedenen Facetten ihres Lebens wahrnimmt – auch in ihrer Imagination.
 
Grenzen trennen Menschen voneinander und schaffen keine Räume für den Dialog. Ganz so, wie Marco Polo enthusiastisch über mögliche Städte spricht und dabei Kublai Khan amüsiert, entwerfen die hier vorgestellten Künstler imaginierte Geografien, die uns vor Augen führen, wie erfunden die Konzepte von Nationen und Grenzen sind. Das wiederum bedeutet, dass man sie durchaus infrage stellen kann, um mit anderen Menschen ins Gespräch zu kommen.